Ich – eine Stalkerin? Echt jetzt?
Wieso ich niemals einer fremden Person beim Frühstück hätte sagen sollen, dass ich sie regelmäßig beobachtet habe.
Kennt ihr das auch? Ihr seht zum Beispiel jedes Mal beim Joggen denselben alten Mann im Park, der mit seinem Dackel Gassi geht. An der Bushaltestelle wartet ständig mit euch die junge Frau, deren Fingernagel jeden Tag eine andere Farbe haben. Oder in der Schlange der Supermarktkasse begegnet euch regelmäßig der Papa mit Kind, der seinen Nachwuchs schon mal an der Gurke knabbern lässt.
Aus irgendeinem Grund fallen einem solche Personen auf – das ist einfach so und macht einen bestimmt nicht zu einem schlechten Menschen, oder doch?
Was anderes gab es halt nicht zu beobachten
Ich hatte auch mal so eine Person. Vor mindestens einer Handvoll Jahren, als ich zwei Monate lang mit dem Zug zur Arbeit fahren musste, sah ich früh morgens am Bahnhof immer eine junge, große, schlanke Frau mit langen und sehr glatten blonden Haaren. Jeden Tag wartete sie mit ihrer vielleicht ein- oder zweijährigen Tochter auf den Zug.
Soweit ich mich erinnern kann, wuselte sie immer um ihr Kind herum, redete mit dem Mädchen, nahm es erst auf den Schoß und ließ es dann wieder ein bisschen herumlaufen. Ich fand sie vom ersten Moment an sympathisch und schaute ihr und ihrer Tochter gerne beim Start in den Tag zu. Was anderes gab es sowieso nicht zu beobachten.
Nach zwei Monaten hatte sich für mich die nervige Zugfahrerei erledigt. Aber die blonde Frau sah ich trotzdem immer wieder im Ort. Ich weiß sogar, wo sie wohnt. Meine Güte – was kann ich dafür, wenn sie aus ihrer Wohnung kommt oder hineingeht, wenn ich zufällig die Straße entlang gehe? Tja, und seit neuestem weiß ich auch, wo sie arbeitet.
Mein Mann und ich sind in unserem Ort schon länger auf der Suche nach einem Café, in dem man schön frühstücken kann. Kürzlich probierten wir eine kleine aber vielversprechende Bäckerei aus. Hinter dem Tresen: Die jung aussehende, schlanke und große Frau mit den glatten blonden Haaren.
Wir setzten uns hin und bestellten relativ aufwändig. Wir wollten nämlich die Bestandteile des vorgeschlagenen Frühstücksmenüs verändern. Sie beriet uns gut gelaunt und hilfsbereit und war außerdem ganz verzückt von unserer Tochter. Logisch! Nora ist ja auch das niedlichste Baby der Welt.
Stalkerin: Mein fatales Bekenntnis
Beim Frühstück plauderte sie weiter mit uns und erzählte von ihrer mittlerweile neun Jahre alten Tochter. Neun Jahre! Ich konnte es kaum glauben. Sie lachte, schwatzte – und ich konnte meinem inneren Drang nicht wiederstehen.
Ohne auch nur einen Moment über die Folgen meiner Worte nachzudenken, sagte ich lächelnd: „Ich habe Sie mit Ihrer Tochter vor einigen Jahren immer morgens am Bahnhof gesehen als ich den Zug zur Arbeit nehmen musste.“
Mein Gott, was hatte ich denn erwartet? Dass sie mir um den Hals fallen würde? Dass sie mir sagen würde, dass ihr mein emotionsloses Morgenmuffel-Gesicht damals auch schon aufgefallen war? Fehlanzeige. Sie stellte die Plauderei und das freundliche Lachen lieber umgehend ein und fing wahrscheinlich gedanklich an, die Anzeige bei der Polizei vorzuformulieren.
Kurz angebunden kassierte sie uns ab, wir gingen nach Hause – und sind nun leider weiterhin auf der Suche nach einem schönen Frühstückscafé.
Wer verfolgt hier eigentlich wen?
Zwar nicht zum Frühstück, aber zum Kaffeetrinken am Nachmittag habe ich mir übrigens nun ein anderes Café in der Gegend ausgeguckt. Als ich zum zweiten Mal hereinspaziert bin, saß SIE als einziger anderer Gast an einem kleinen Tisch. Und die letzten beiden Male, als ich den Bus genommen habe, ist SIE kurze Zeit später zugestiegen.
Frau, was willst du von mir? Hab jetzt etwa ich eine Stalkerin? Boah nee! Kann schon mal einer die Nummer der Polizei wählen, während ich – natürlich nur so zur Sicherheit – kurz noch schaue, wo sie gerade hingeht?
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